Schon fast zwei Jahre vor dem Abitur stand für mich fest, dass ich ein Duales Studium bei einer großen deutschen Versicherung in Köln absolvieren werde.

Dass ich mich dort beworben habe war eigentlich ein Zufall, zunächst wollte ich zu einer Bank gehen nachdem ich meine Pläne Chirurgin zu werden fallen gelassen habe. Es war meine erste Bewerbung und man bot mir nach Absolvierung eines Assessment Centers noch am gleichen Tag eine Stelle mit Beginn September 2017 an. Das sogenannte Integrierte Studium ist so aufgebaut, dass ich die Ausbildung zur Kauffrau für Versicherungen und Finanzen nach 2,5 Jahren abschließen und nach 3 Jahren bzw. 6 Semestern einen Bachelor of Science im Studiengang Versicherungswesen haben werde.

Das Studium findet an der TH Köln statt und ich muss nicht wie eine reguläre Auszubildende zur Berufsschule. Stattdessen gibt es alle paar Monate ein Seminar, in dem die Dualen Studenten aller teilnehmenden Versicherungen auf die IHK-Prüfungen vorbereitet werden. Zusammen mit einem zweiten Studenten des Unternehmens galt es folgendes Programm zu bewältigen: In den ersten zwei Semestern drei Arbeitstage und zwei Hochschultage, ab dem 3. Semester dann zwei Arbeitstage und drei Hochschultage pro Woche. Fünf Arbeitstage in der vorlesungsfreien Zeit. Praxisnäher kann man die Theorie nicht machen. Es sah alles so spektakulär aus…die riesige Konzernzentrale mit Sicherheitsschleusen und die vielen weißen Krägen. Ich arbeitete zunächst einige Monate im Geschäftsbereich Sach- und Haftpflichtversicherung für Gewerbekunden. Zusammen mit vielen jungen Kollegen prüfte ich Anträge und bearbeitete Änderungen, Kündigungen, Insolvenzen, etc. – klassische Sachbearbeitung. Von Woche zu Woche arbeitete ich meinen Arbeitskorb ab und empfand die Tätigkeit zunehmend als monoton und trocken. Mir fehlte es an Abwechslung und Herausforderung. Parallel dazu verbrachte ich an den zwei Tagen in der Woche zusammen fast 24 Stunden in der Hochschule und setze mich mit Themen wie Bilanzierung, Recht und Versicherungstechnik auseinander.

Trotz des riesigen Pensums machten mir die Hochschultage viel Spaß und steigerten meinen Wissensdurst nur noch mehr. Früh lernte ich den Leitsatz, der mich die ganze Ausbildung lang begleiten wird: Veränderung ist die einzige Konstante. Neben tollen Arbeiten gehört zu einer Ausbildung auch dazu, herauszufinden was nicht zu einem passt. Das ist vielleicht nicht die schönste Zeit, aber rückblickend eine der wertvollsten Erfahrungen. Ich wechselte während des zweiten Semesters in die Produktentwicklung der Lebensversicherung und fand genau das passende für mich. Dort arbeite ich immer noch und werde auch bis zum Ende des Studiums dort verweilen. Ich entwickle in verschiedenen Projekten Produktkonzepte und Geschäftsstrategien rund um die Themen Absicherung, Vorsorge und Investment. Im Rahmen dessen wende ich mit den Kollegen sogenannte agile Arbeitsmethoden an und kann die Modernisierung der konservativen Versicherungsbrache hautnah miterleben und mitgestalten. Ein Wandel von starren Führungsebenen und Kopfmonopolen hin zu einer neuen Arbeitswelt wie sie immer öfter von jungen Menschen gesucht wird.

In den Projekten und meiner Abteilung ist jeder Mitarbeiter gleichwertig, obgleich Auszubildender oder Bereichsleiter. Am meisten Angst hatte ich vor Klischee-Azubi- oder Werkstudententätigkeiten, sprich Knicken-Lochen-Abheften und das tagein tagaus. Dem ist überhaupt nicht so, mir werden bedeutende Aufgaben und Entscheidungskompetenzen zugesprochen, ich werde darin bestärkt meine ehrliche Meinung abzugeben und den Prozess und letztendlich das Produkt zu beeinflussen. An meiner Tätigkeit schätze ich so sehr, dass die Arbeit für alle Kollegen eine Herausforderung und ein Lernprozess ist. Alle ziehen gleichermaßen am selben Strang und ich als Unerfahrenste werde nicht zum ‚Über die Schulter gucken‘ verdonnert, sondern löse komplexe Aufgaben oft durch ‚Learning by doing‘. So konnte ich dann im Herbst mein erstes Projekt mit einer Produkteinführung abschließen und meine erste Dienstreise alleine antreten, um das Produkt vor einem bedeutenden Plenum vorzustellen. Ich bin immer noch überwältigt von der Selbstverständlichkeit mit der mir die Aufgabe zugetragen wurde. Niemals hätte ich gedacht, dass so etwas ohne Bedenken an eine Auszubildende oder Studentin übergeben würde. Auch wenn mich die Arbeit und das Studium erfüllen, hat das Ganze eine Schattenseite. Dessen sollte man sich schon vor Beginn eines solchen Studiums bewusst sein, daher schildere ich Euch mal die Situation. Der Druck – besonders der eigens erzeugte – ist immens und der Arbeitsaufwand der beiden Stellen addiert sich zu mehr als einer regulären Vollzeitstelle.

Von den 30 Urlaubstagen entfallen für mich mindestens 20 Tage für die Klausurvorbereitung in den Semesterferien. Wie ein Vollzeitstudent je nach Klausurterminen 1-4 Monate pro Jahr freizuhaben ist nicht möglich. Es gilt: Bin ich nicht in der Hochschule, bin ich im Büro. Gutes oder schlechtes Zeitmanagement entscheiden hier über Gewinnen oder Verlieren. Während der Klausurphase findet man mich zwischen den Arbeitstagen abends und an den Wochenenden am Schreibtisch. Jetzt im Hauptstudium ist die Situation deutlich angenehmer geworden, während es in den ersten zwei Semestern zwischenzeitlich unglaublich stressig wurde. So stressig, dass sich die Luft zu dünn zum Atmen anfühlte. Einige Kommilitonen verließen ihre Unternehmen und der Hörsaal wurde mit der Zeit lichter. Mein einziger Kommilitone aus dem gleichen Unternehmen ging ebenfalls. Auch ich versuche immer mein Bestes zu geben, das Vertrauen der Kollegen nicht zu verlieren und gleichzeitig gute Noten zu schreiben. Meine Freizeit wurde merklich weniger, mein Freundeskreis kleiner. Beides bekam aber eine ganz andere Qualität und eine neue Art der Wertschätzung. Die Mühe und der Druck werden dafür überdurchschnittlich kompensiert, sodass ein komplett eigenständiges Leben abseits von verwandten Sponsoren möglich ist. Wer kann das direkt nach der Schule schon von sich behaupten?

Die Berufserfahrung und Einbindung in das Unternehmen sind mit kaum einem Werkstudentenjob zu vergleichen. Gleichzeitig erweitert man seine wertvollen Soft-Skills (habe ich damals bei Herrn Schommartz gelernt – Grüße!) und knüpft Kontakte. Abseits von Allem: Die schönste und wichtigste Veränderung in den fast zwei Jahren war definitiv mein persönliches Wachstum! Das Aufblühen der eigenen Persönlichkeit, das Gefühl der selbsterschaffenen Glückseligkeit und der Wandel von Gedanken und Wahrnehmungen. Wenn ich einen Rat weitergeben kann, dann genau dieses Wachstum voranzutreiben. Diese Jahre sind so prägend, also sollte man seine Zeit so verbringen, dass man stärker wird und sich zu einer selbstbewussten und autonomen Persönlichkeit formt. Lass auf dem Weg alles zurück was keinen Mehrwert bringt oder belastet, mag es das blöde Studium oder die alten Freunde sein. Veränderung ist die einzige Konstante! Früher Berufseinstieg hin oder her, aus der gesetzlichen Rente gibt’s später eh nicht viel. Das kann ich Dir/Euch sogar vorrechnen.

Eure Mai Linh

Mail Linh Le

Abitur2017